breaking news from the edge

Jede Systemkultur entwickelt auf der Grundlage ihres Mythos eine eigene Identität. Womit sich die Mitglieder eines Systems im Einzelnen identifizieren, ist also von Kultur zu Kultur äußerst unterschiedlich. Jede Systemkultur hat ihre eigenen heiligen Kühe: vom Souverän gesetzt, von den Führenden bewacht. Womit eine Kultur am stärksten identifiziert ist – und wovon sie sich am aggressivsten absetzt – wird anschaulich repräsentiert in ihren öffentlichen Räumlichkeiten …

Die Identifikationen und Grenzen des öffentlichen Bedeutungsraums, die ich hier in den Fokus nehmen will, sind in den öffentlichen Räumen aller Systemkulturen der westlichen Welt in der einen oder anderen Weise anzutreffen. Da ihre mythologischen Wurzeln in der Zeit der Aufklärung und der Industrialisierung liegen - und letzlich bis in die griechisch-römische Antike zurückreichen - sind sie uns so selbstverständlich, dass wir sie nicht infrage stellen. Wenn ich sie jetzt zusammenfassend erläutere, nutze ich besonders unsere heimatliche, deutschsprachige Kultur als Beispiel, um zu zeigen, wie sie wirken. Wie wir längst wissen: Wirkung unterhält mit Absicht keine lineare, betriebswirtschaftliche Beziehung ...
Die folgenden Zeilen entstammen teilweise dem Grundlagenwerk ‚'Die heiligen Kühe...'. Stand 2007. Ich habe auch nach 15 Jahren an dem Text nichts zurückzunehmen. Im Gegenteil: Die sogenannten Klima-, Lebenshaltungskosten-, Energie-, Wasser-, Luft- und Sonst-was-Krisen konfrontieren uns alle auf dieser Erde damit, dass wir lieber nicht so weiterleben sollten ... 
Sehehehr anschaulich können wir das aktuell in unseres Bundestagsdebatten rund um Versorgungssicherheit, Inflation, Atomkraftwerkslaufzeitsverängerungsvarianten und so weiter und so weiter bezeugen. Ich muss lachen, damit ich nicht weinen muss – beides liegt sehr eng beieinander. Also, konkret:

Unsere Identifikation mit Wachstum und Quantität

Der Kapitalismus ist das System, nach dem wir uns heute weltweit (fast 'alternativlos') organisieren, und dessen Wesen besteht in der Produktion von stetigem, quantitativem Wachstum. Die kapitalistischen Grundüberzeugungen lauten ‚mehr ist besser’ und ‚nur der Stärkere überlebt’. Das stille Einverständnis in die ‚Mehr ist besser’-Wachstumsideologie ist in unseren nationalen und supranationalen öffentlichen Räumen so tief verankert, dass niemand überhaupt auf die Idee käme, ihre Klugheit in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Unter den veränderten Vorzeichen der globalen Matrix ist aus dem ‚Mehr ist besser’ ein ‚Wachs oder stirb’ geworden. Allerdings bleibt völlig im Dunkeln, zu was für einer Qualität von Sein das zwangsläufig gewordene globale Wachstumsstreben eigentlich führen soll, zumal, wenn in diesem allseitigen Wettrennen der Erde mehr genommen wird als sie verträgt.

Unsere Wachstumsideologie ist uns so selbstverständlich, dass wir auch privat nur selten darüber nachdenken, ob sie vernünftig ist. Zwar lassen wir uns im Urlaub in Kiribati gerne davon bezaubern, wie „gut drauf“ Menschen sein können, die nur ein Bruchteil von dem besitzen, was wir haben, und fühlen uns – zu Recht – als Knechte der unerbittlichen Mehr-von-allem-Produktionsmaschinerie. Aber dann seufzen wir einmal tief und genehmigen uns noch eine Pina Colada, um uns nicht weiter damit beschäftigen zu müssen. Die wird natürlich serviert von einer gastronomischen Dienstleisterin in prekärem Beschäftigungsverhältnis, die uns niemals mit dieser Absurdität konfrontieren würde - schließlich lebt sie von uns. 

In Deutschland sind wir mit quantitativem Wachstum ganz besonders identifiziert, denn die Weltwirtschaftskrise von 1928/29 leitete den Untergang der vom Souverän ohnehin nicht besonders gemochten Weimarer Demokratie ein. Seit der Gründung des ‚Zweckverbands’ Bundesrepublik waren die politischen Eliten Westdeutschlands getrieben davon, die Bevölkerung mit wirtschaftlichem Erfolg für die Demokratie zu gewinnen, damit sich das Schicksal der Weimarer Republik nie wiederholen möge. Zugleich stürzten sich die Menschen, ihrerseits getrieben davon, ihre Versündigung der Teilnahme am Nazisystem zu überwinden, mit aller Energie in den Wiederaufbau und die Konstruktion des ‚Wirtschaftswunders’. Die alte Bundesrepublik war zu wirtschaftlichem Erfolg geradezu verdammt, denn es gab einfach nichts anderes, mit dem sie sich hätte identifizieren können. Das Land war geteilt. Die Bewältigung der Nazivergangenheit fand öffentlich nur juristisch statt, und auch das nur zögerlich, unter den kritischen Augen der Alliierten. In jeder konjunkturellen Krise hatte das Gespenst der Weimarer Republik seine Auftritte in den öffentlichen Räumen der Politik. Mit der Wiedervereinigung verstärkte sich die Hypnose auf den wirtschaftlichen Erfolg noch, denn mit den neuen Ländern kamen 16 Millionen Demokratie-Ungeübte hinzu, genauso traumatisiert wie der Rest von uns. Fantastische Summen wurden fast panisch von West nach Ost transferiert, um es auch den ostdeutschen Brüdern und Schwestern zu erleichtern, sich in die Demokratie einzukaufen - um gemeinsam das Heil in unaufhörlichem Wachstum zu suchen. Spüren Sie auch beim Lesen die subtile Panik, die an der Wurzel dieser Anstrengung liegt? Kann bitte mal jemand Professionelles die FDP einer gediegenen Psychoanalyse unterziehen? Besonders den hypernotorischen Patrick Lindner?

Heute, 20-scheiß-22, sind wir mit so globalen wie lokalen Katastrophen konfrontiert, die so akut wie radikal unseren wachstumsbesessen kapitalistischen Lebensstil infragestellen. Und Gaia sei Dank melden sich immer mehr (oft indigene) Stimmen zu Wort, die transformative Auswege aus dem Wachstums-Dilemma erahnen lassen. Hoffnungsschimmer der Dämmerung!

Mehr dazu, gegen welche Bedrohung genau die Identifikation mit Wachstum errichtet ist, beim nächsten Mal, wenn es wieder heißt: kulturelle Kompetenz, watisdattdann?

 

Die Essenz der Gedanken, die diesem Beitrag unterliegen, entstammt natürlich dem Standwerk 'Die heilgen Kühe ...'

Hier, hier, über ihre wachstumsorientierte interne Buchhaltung oder direkt bei uns im Wandelforum könnn Sie es schmerzfrei online bestellen.

Leadership Blog

  • Coaching (15)

    Vom Ist zum Soll. Von den Zielen zu Maßnahmen. Vom Problem zur Lösung.(...)

  • Leadership (43)

    tough love coverBlogreihen auf der Basis von Tough Love - Führen ist Beziehungsarbeit

  • Beziehungen (21)

    (...) die globalisierte Matrix von Interdependenz und Konkurrenz betrachtet, und wie diese uns als ‚Global Citizens‘ herausfordert: Wozu sind wir aufgerufen? Diesmal geht es um das Verhältnis von Geben und Nehmen.

  • Publikationen (4)

    die heiligen kueheDie heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels
    Tough Love Führen ist Beziehungsarbeit. Ständig.

  • Konflikte (6)

    (...) spezifische Verhältnisse von Abhängigkeit und Konkurrenz (...) Anspruch auf Führung (...) Konfliktlösungstemplates

  • Kollektive Intelligenz (10)

    (...) das Konzept der kollektiven Intelligenz (...) welche Aufgaben und Herausforderungen sich für die Führung in Organisationen ergeben

  • Kulturelle Kompetenz (20)

     update soon

Netzwerke

linked inxingwandelforum

© 2024 Rainer Molzahn

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.