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Wer darf die Grenze dessen, was im öffentlichen Raum eines Systems sag- und verhandelbar ist, verstören oder gar überschreiten? Wir wissen bereits, dass diese Grenze in aller Regel nicht schriftlich oder ausdrücklich formuliert ist, sondern in einem stillen Konsens aller Beteiligten aufrechterhalten wird. Gerade darin liegt ihre Mächtigkeit. Was also braucht es, den stillen Konsens zu erschüttern?

Persönliche Voraussetzungen

Wir sollten nicht auf Gedeih und Verderb von der Gemeinschaft abhängig sein, deren Mitglied wir sind. Es ist gut, im schlimmsten Fall auch gehen zu können. In Systemen, die keinen Austritt erlauben, von denen wir existenziell abhängig sind, ist kulturelle Kompetenz ein Kamikazeprojekt. Liebe Kinder, liebe Nonnen und Mönche, liebe Mafiosi: Macht euch euren privaten Reim, aber haltet lieber den Mund!

Wir sollten auch innerlich nicht vollkommen von der Gemeinschaft abhängig sein – davon, dass wir von den Anderen unablässig wertgeschätzt, anerkannt und geliebt werden. Manchmal braucht es die Verbundenheit mit etwas noch Größerem als unserer Gemeinschaft, mit einer inneren Kraftquelle, aus der wir die Sicherheit schöpfen, die wir brauchen, wenn wir von den Anderen als Störung identifiziert werden.

Wir dürfen nicht aus blankem Eigennutz sprechen, sondern mit der Perspektive auf das Ganze und mit Engagement für dessen Wohlergehen.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir, indem wir etwa auf das Offensichtliche aufmerksam machen, einen sehr hohen Rang einnehmen, unabhängig davon, welchen Rang unsere Systemrolle hat – einfach, weil es sonst niemand tut. Aus demselben Grund dürfen wir auch innerlich nicht nur mit unserer Systemrolle, deren Perspektive und Beitrag identifiziert sein. Wir sprechen in erster Linie als Person.

Diese Voraussetzungen klingen vielleicht anspruchsvoll, sind aber bei Licht besehen für die meisten von uns meistens gegeben, oder?

Systemrollen

Was die Systemrollen, ihre Erlaubnisse und Begrenzungen angeht, möchten wir einen Moment innehalten und uns fragen: Welche Systemrollen gibt es überhaupt, die den Auftrag oder zumindest die Erlaubnis haben, die Grenzen zwischen dem öffentlichen Bedeutungsraum und der Privatsphäre zu übertreten? Wir haben im letzten Abschnitt die ehelichen Beziehungen der Mächtigen als einen der Kanäle kennen gelernt, über die das kulturelle Feld sich selbst reguliert. Aber ‚Ehefrau’ ist ja keine eigentliche Systemrolle.

Narren

Als Erstes fallen einem die Hofnarren ein, die dem Souverän des mittelalterlichen feudalen Systems öffentlich den Zerrspiegel vorhalten und ihm Dinge sagen durften, die jeden anderen den Kopf gekostet hätten. Durch die Verzerrung ins Komische, eben Närrische, mussten sie wiederum versuchen, ihrem Feedback die Schärfe zu nehmen. Ursprünglich sollten die Hofnarren als ‚Offizianten’ (in einem festen höfischen Amt) ihren Herrn nicht belustigen, sondern ihn als ernste Figur ständig daran erinnern, dass auch er in Sünde fallen könnte und daran sterben würde. Über die Jahrhunderte professionalisierte sich das Hofnarrenwesen. Es gab teilweise an den Höfen Narrenausbilder, die auffällige Kinder aus der Umgebung zusammensuchten und diese zu Hofnarren heranbildeten. Im Absolutismus wurden die Hofnarren wichtige Mittler zwischen den Sphären und von allen möglichen Seiten instrumentalisiert und ‚vorgeschickt’. Die Begrenzung ihrer Narrenfreiheit lag natürlich darin, dass sie sonst nichts durften, also keinem eigenen systemischen Ehrgeiz nachgehen und sich nicht am Kräftespiel der anderen Mitglieder beteiligen. (Nicht alle hielten sich immer daran:  die französische Närrin Marthurine zum Beispiel verdiente sich zusätzliches Geld damit, dass sie Hofklatsch drucken ließ und eigenhändig auf der Pont Neuf in Paris an das gemeine Volk verkaufte.)

Auf der gesellschaftlichen Ebene geht es heute den Künstlern ähnlich wie den Hofnarren. Ihre Rolle erlaubt ihnen, Privates und Intimes öffentlich zu präsentieren und uns als demokratischem Souverän den Spiegel vorzuhalten. Ihre Begrenzung liegt darin, dass sie nur ins Private wirken dürfen. Ins Theater geht man als Person, ein Buch liest man als Person. Auch dürfen sich Künstler in dieser Rolle z.B. nicht direkt in politische Auseinandersetzungen einmischen. Sie dürfen es, anders als die Hofnarren, wie jeder von uns als Personen (siehe etwa Václav Havel, der tschechischer Präsident wurde), aber dann müssen sie aufhören, als Künstler zu sprechen.

Geistliche Führung

Eine weitere Systemrolle ist bedenkenswert: das ist die der geistlichen, nicht der weltlichen Führung. In naturverbundenen Kulturen sind das die Schamanen, in unserer christlichen Kultur sind das die Priester. Sie durften – und dürfen – in öffentlichen Situationen Wahrheiten sagen, welche die Grenzen zwischen den Bewusstseinssphären missachten, aber um diese Autorität zu haben, müssen auch sie eigenen weltlichen Strebungen entsagen. Das gelang der christlichen Kirche, wie man weiß, z. T. über Jahrhunderte gar nicht gut. Das wiederum führte mit der Reformation zum Schisma der Christenheit und brachte die Aufklärung auf den Weg. Spätestens seitdem kann kein geistlicher Führer mehr für alle Mitglieder unserer säkularen Kultur sprechen, und in unserer globalisierten, multipolaren religiösen Landschaft, die sich auch im Innern unserer Gemeinwesen repräsentiert, noch viel weniger.

Mehr zur Frage, wer den stillen Konsens stören darf, im dritten Teil dieser Reihe.

 

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