breaking news from the edge

Die Bilanz eines Ältesten der Frankfurter Schule zur Qualität unserer öffentlichen Räume in den Zeiten der ‚sozialen Medien‘, seine Rezeption in unseren ‚herkömmlichen‘ Medien (also denen mit ‚Bildungsauftrag‘) – und was alles das über den akuten Zustand unserer kollektiven Intelligenz sagt. Spoiler Alert, zähneknirschend und mit pochendem Herzen: Never Give Up …

Dies ist die ganz lange Geschichte, so kurz wie möglich zusammengefasst …

Risiken, Nebenwirkungen und Spätfolgen der Aufklärung

Jürgen Habermas ist ein prominenter Vertreter der Frankfurter Schule, der Reinkarnation der deutschen Aufklärung in ihrem posttraumatisch belasteten Zustand nach der Katastrophe des Nationalsozialismus. Er ist jetzt Anfang neunzig. Eigentlich sollte er sich im ‚wohlverdienten Ruhestand‘ befinden, längst. Aber er meldete sich letztens wieder öffentlich zu Wort – sicher aus einem Zustand vollkommen berechtigter Sorge heraus. Seine Botschaft, als Management Summary an uns als Souveräne unseres demokratischen Gemeinwesens:

Die Qualität unseres großen öffentlichen Raums ist in akuter Gefahr. Und damit unsere kollektive demokratische Intelligenz. In einer Zeit, in der wir und der Rest der Schöpfung sie brauchen wie nie zuvor. Wir dürfen das nicht so hinnehmen.

Die Gründe für Atrophie unseres öffentlichen Diskurses haben damit zu tun, dass die Grenzen zwischen den öffentlichen und privaten Sphären durch die epochale Verbreitung von Smartphones, der ‚sozialen‘ Medien und anderer virtueller Räumlichkeiten begonnen haben, sich fast völlig aufzulösen. Das Private ist öffentlich, das Öffentliche ist privat, das Intimste  wird ver-öffentlich-t. Man muss jederzeit überall mit allem rechnen, von irgendwo. Mit der Verschmelzung haben sich alle kulturellen Sphären korrumpiert und kontaminiert. Letztlich also abgeschafft. Man spürt fast eine hintergründige, erbsündigen-artige Ohnmachtsdynamik in all dem, die der eigenen Täterschaft genauso sehr erlegen ist wie dem eigenen Opfersein ...

Kurz meine eigene lange Geschichte damit

Als ich vor einigen Wochen von Habermas‘ öffentlichem Weckruf erfuhr, war ich ziemlich beglückt – wenn das der richtige Ausdruck hier ist: schließlich beschäftigen mich Qualität und Quantität unserer öffentlichen Räume schon lange, mit nicht nachlassender Intensität, und mit zunehmender Sorge. Dass einer meiner mythologischen Ziehväter aus einer Ältesten-Perspektive dazu die Alarmglocke läutete, ließ mich erstmal tief durchatmen. Gleichzeitig ermutigte es mich, meine eigenen drei Kernbefunde zu den wichtigsten Merkmalen unserer Schönen neuen Welt im Angesicht ihrer epochalen Herausforderungen durch Habermas‘ Stellungnahme validiert zu sehen. Lange nicht so tief durchgeatmet …

Nr. 1: What a Dump

 Die Qualität unseres gemeinsamen Denkens ist zum Erbarmen.

Nr. 2: Forget Privacy

 Die Privatsphäre ist nostalgischer Schnee von gestern. Und damit auch die öffentliche.

Nr. 3: The Customer is the Product

 Der Souverän ist nicht zu Hause. Der Kunde ist das Produkt.

 In niedrigschwelligen Worten, noch kürzer summiert:

Die Schlussfolgerung

Es herrscht eine große Verwirrung unter den Menschen. Es gibt kein Einverständnis mehr darüber, was real ist. Was wirklich ist. Und das in einer Zeit, in der eine kollektive, nicht-debile Antwort auf die Krise des Anthropozäns dringend geboten ist.

Oh mei. Man wird schwindelig. Von Herzen also Dank an Jürgen Habermas dafür, seinen Weckruf an uns zu richten. Er tat das in den vergangenen Monaten unter anderem in einem von der TAZ veranstalteten Workshop oder anlässlich der Verleihung des ‚Tutzinger Löwen‘. Immer wach, gewitzt, charmant und weise. Es gibt viele Gründe, diesem Ältesten von Herzen und mit gedanklicher Präzision zuzuhören.

Die Habermas-Rezeption im kritisch identifizierten Mainstream-Journalismus

Was mich im Angesicht all dessen irritiert und zutiefst wunderlich macht, war und ist die Rezeption im Mainstream der kritischen deutschen Presse. Namentlich der SPIEGEL-Artikel, über den ich überhaupt auf die Habermas‘sche Initiative aufmerksam wurde – danke dafür. Ich zitiere, selektiv und zuspitzend:

„Inmitten anderer, sicherlich wichtigerer gesellschaftlicher Angelegenheiten und Nachrichten…“ – „Im Alter von 92 Jahren…“ – „Revision seiner »Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit«, erschienen in der Fachzeitschrift Leviathan…“. Deren jüngste Ausgabe widmet sich unter dem Titel »Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?« mit zahlreichen Autoren explizit einer Überprüfung des Habermas’schen Ansatzes. Inwiefern diese Überlegungen und Hypothesen die früheren Thesen neu ausrichten, das hat der Demokratiewissenschaftler und Journalist Oliver Weber in einem lesenswerten Text skizziert …"

Die Endsumme alle dieser redlich post-aufklärerischen Evaluationsbemühungen, sowie sie insbesondere von der Kolumnistin Samira El Quassil präsentiert wurden: Habermas sei:

„Angekommen in der medialen Gegenwart – Late to the Party“

Was mich an dieser Diagnose anthropologisch erschüttert, ist, dass sie die eingangs von mir beweinten Verschmelzungen und Kontaminationen unserer kulturellen Sphären nicht nur als quasi naturgegeben und nicht mehr hinterfragbar voraussetzt, sondern auch noch mehr desselben oben draufsetzt und als konzeptuelle Lösung positioniert: die „redaktionelle Gesellschaft“. In diesem Vorschlag schimmert zwar irgendwie die matte Hoffnung durch, dass wir als ‚redaktionell‘ Verantwortliche unserer Meinungsäußerungen in der ‚medialen Gegenwart‘ mit dem Privileg, uns frei äußern zu dürfen, verantwortungsvoll und rollenbewusst umgehen würden. Aber genau das war ja schon im ersten historischen Durchlauf die Hoffnung. Dasselbe, encore une fois? Habermas dazu:

»Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt.«

Kann da mehr desselben wirklich helfen? Ich bezweifle es wie Habermas unter Schmerzen. Und ich kann nicht anders als festzustellen: der alte Herr hat ein akuteres Bewusstsein unserer kulturellen Daseinsbedingungen als die Generationen, die ihm im Namen der kritischen Vernunft nachgefolgt sind.

Abt. Ehre, wem Ehre gebührt: 'Schöne neue Welt' ist der Titel eines visionären dystopischen Roman von Aldous Huxley, aus dem Jahr 1932 ...

Ach, und übrigens: Barack Obama – wahrhaftig nicht der Generation Habermas zugehörig – hat vor kurzem noch eins draufgelegt.

Was gibt es da für uns zu lernen? Mehr Erhellendes dazu in den nächsten Beiträgen, wenn es wieder heißt: kulturelle Kompetenz, watisdatdann?

 

Mehr zu den Mustern, die diesen Prozessen zugrunde liegen, steht natütlich in 'Die heiligen Kühe...'.

Hier, hier, über Ihre lokale Buchhandlung oder direkt bei uns im Wandelforum können Sie es online beziehen.

Leadership Blog

  • Coaching (15)

    Vom Ist zum Soll. Von den Zielen zu Maßnahmen. Vom Problem zur Lösung.(...)

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    (...) die globalisierte Matrix von Interdependenz und Konkurrenz betrachtet, und wie diese uns als ‚Global Citizens‘ herausfordert: Wozu sind wir aufgerufen? Diesmal geht es um das Verhältnis von Geben und Nehmen.

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    die heiligen kueheDie heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels
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