breaking news from the edge

In den letzten Jahren erleben wir eine erstaunliche Renaissance autokratischer Herrschaftsformen, überall auf unserem kleinen Globus. Putin, Bolsonaro, Erdogan, Duterte, wie sie alle heißen. Und es gibt zahllose Aspiranten auf die Mitgliedschaft in diesem Club – auch hier bei uns im Auenland ...

Ich bete, dass 'Renaissance' das falsche Wort ist. Es fühlt sich eher an wie das, was man im Englischen „the last throes“ nennt – die letzten Zuckungen des Patriarchats, unter dem wir alle, Männer und Frauen, seit wohl 8,000 Jahren leben.

Schön wär’s ja, letzte Zuckungen. Wir können aber nicht daran vorbeisehen, dass alle derzeitigen Autokraten durch ‚freie und geheime‘ Wahlen ermächtigt wurden – auf ausdrücklichen und öffentlichen Wunsch der Wählerschaft. Wie das deutsche Original 1933 auch. Welche individuellen und kollektiven Abgründe diesem ausdrücklichen Wunsch zugrunde liegen, will ich an anderer Stelle ausführen.

Was mich heute beschäftigt, ist, welche Folgen es für den Autokraten und alle von ihm Abhängigen hat, wenn es erst einmal zu der Herrscher/Souverän-Verschmelzung gekommen ist, die das systemische Grundmuster aller autokratischen Regime ist. Dies ist wiederum bedeutsam dafür, wie wir auf die Autokratie antworten, als mündige Mitbürger*innen unseres demokratischen Systems (das die Autokraten ermächtigt hat). Das ist keine triviale Frage, denn letztlich läuft sie hinaus auf diese:

Kriegen wir es friedlich hin, oder geht es nur mit Gewalt?

Doch zunächst zur Hybris. Beim Nachdenken darüber stieß ich auf eine Textstelle in 'Die heiligen Kühe...' (S.87ff – ‚System‘). Ich erinnere mich noch gut, wie es war, diese Zeilen zu schreiben. Ich saß wie eingehüllt in eine dunklen Wolke bei Elke in Lörrach am Küchentisch, tief gebeugt über meinen Laptop. Abgestoßen, erschrocken und fasziniert. Und sehr aufgeregt wegen der Erkenntnis, die sich mir präsentierte. Hier die Textstelle:

„Wir denken sofort an das „L'état, c'est moi!" des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Das Mandat für seine Herrschaft verleiht er sich entweder selbst, wie Napoléon I. - übrigens Putins Vorbild!), der sich selbst die Kaiserkrone aufsetzte. Oder er reklamiert ein göttliches Mandat, wie wir es von den römischen Cäsaren und anderen Gottkönigen kennen. Oder er ist gar selbst göttlich, oder aber er steht als Person in vollkommener Weise für das ganze System wie die kommunistischen oder faschistischen Diktatoren.

Wie auch immer die kulturelle Rechtfertigung aussieht, der Effekt ist der, dass sich solcherart Herrschaft nicht mehr legitimieren muss. Ein solcher Herrscher hat nicht zu befürchten, dass ihm seine Herrschaft entzogen wird, denn das kann ja nur der oder die Eigner tun, also man selbst oder Gott. Der Eigner aber, der Souverän eines Systems, ist tabu, denn er steht für die absoluten Existenzgrundlagen, ohne ihn gäbe es das System nicht. Die Existenzgrundlagen eines Systems sind heilig. Während es zwar sehr riskant, aber doch möglich ist, die Herrschenden zu kritisieren, ist es vollkommen unmöglich und Ketzerei, nachgerade suizidal, den Souverän anzugreifen. Kritik an dem Herrschenden ist im Falle dieser Systeme also gleich Kritik an den ‚heiligen' Lebensgrundlagen, man muss auf die schlimmsten Konsequenzen gefasst sein, wenn man dieses Tabu bricht.

So ist es z.B. unerhört, in der Öffentlichkeit eines Unternehmens die Inhaber zu kritisieren, und vollkommen undenkbar, wenn diese auch noch selbst das Unternehmen führen. In Familienunternehmen entfaltet sich vor den Augen der Mitarbeitenden z. T. über Jahrzehnte und Generationen hinweg ein überlebensgroßes Theaterstück Shakespeare‘scher Figurenwelten. Die Familiengeschichten wirken in ihren hellen und dunklen Anteilen bis tief in alle Beziehungen des Unternehmens hinein. Aber über die meisten dieser Wirkungen wissen die Inhaber-Herrscher nichts, weil jedes öffentliche Feedback ein Tabu brechen würde.

In noch drastischerer Weise kennen wir die Herrscher-Souverän-Verschmelzung als Usurpation des Heiligen durch die Herrschenden, welche mit der Tabuisierung von Kritik an ihnen einhergeht, aus den kommunistisch oder faschistisch inspirierten Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Reste und Restzustände solcher Herrschaftsformen gibt es aber immer noch, z. B. in Teilen Afrikas oder in Nord-Korea. [Anmerkung 2021: Ha. Ha.] Die Usurpation des Heiligen bedeutet natürlich nicht, dass die Herrschenden bei Licht besehen wirklich heilig sind, und wenn sie noch so sehr den Eindruck pflegen, dass sie identisch sind mit den absoluten Lebensgrundlagen des gesamten Systems. Denn die Existenz des Systems als Ganzes ist im Falle von Nationen niemals identisch mit einer bestimmten Herrschaftsform, und schon gar nicht mit einer Person. Nationen als Kulturen erleben und überleben in ihrer Geschichte oft eine Vielzahl von Herrschaftsformen, selbst wenn ihre Herrscher, wie im Falle von Adolf Hitler, für ihren eigenen Untergang auch das Volk mit seinem nur gerechten Untergang zu bestrafen versuchen. Dies ist die realistisch-rationale, systembedingte Perspektive. Die andere ist diese:

Die Geiselnahme des Heiligen durch die Herrschenden, die Verschmelzung von Herrschaft und Eignerschaft in einer Person, beinhaltet ja schon den Bruch eines Tabus. Es ist ein Akt der Idolisierung, der Vergötzung, und das ist, um in der Sprache der Religion zu bleiben, nicht nur Lug und Trug und Vorspiegelung falscher Tatsachen, Fake News, sozusagen, sondern Sünde. Die Folgen dieser Sünde sind, dass die Kontaminierung des Heiligen, die dem Akt der Vergötzung innewohnt, dass die Hybris der Verschmelzung von Göttlichem und Menschlichem zunächst den Diktator selbst korrumpiert und dann mit ihm alle anderen, lediglich menschlichen Mitglieder des Systems.

Es beginnt damit, dass seine Heiligkeit, der Herrscher, definitionsgemäß nicht mehr zwischen seiner Göttlichkeit und seiner Menschlichkeit unterscheiden kann und darauf angewiesen ist, seine Wahrheit für die absolute Wahrheit zu nehmen. In einem solchen System ist also der öffentliche Raum nicht nur beschränkt auf die unmittelbare physische Umgebung des Herrschers (wie dies etwa bei inhabergeführten Unternehmen der Fall sein kann), er ist sogar im Kopf des Diktators verschwunden, denn der Diktator ist niemandem gegenüber verantwortlich oder rechenschaftspflichtig, aber alle, alle sind es ihm gegenüber. Da der Diktator zwischen seinem inneren öffentlichen und privaten Raum aufgrund seiner Gottmenschlichkeit auch nicht unterscheiden darf, kann er mit seiner eigenen Menschlichkeit nicht mehr menschlich umgehen. Damit löst sich der öffentliche Raum letztlich vollständig in ihm auf. Es mögen zwar an allen möglichen Orten seines Herrschaftsreiches Menschen zusammensitzen und dies als öffentlich empfinden - und aus ihrer Sicht und auf ihrer hierarchischen Ebene ist es das auch (immer mit dem Herrscher als Geist im Raum, und meist mit seinem Konterfei an der Wand). Die Öffentlichkeit aber, die das ganze System repräsentiert, findet nur in seinem Kopf statt. Dieser ‚innere öffentliche Raum' des Diktators ist durch seine Verschmelzung korrumpiert und pathologisiert. Aus seiner Sicht jedenfalls ist alles andere privat. Die Verschmelzung hat zu einer gewaltigen Spaltung geführt. Seine menschlichen Untergebenen, die darauf angewiesen sind, diese Spaltung mit zu vollziehen, werden ihm, wenn sie klug sind, die ganze Hierarchieleiter hinauf nur das berichten, von dem sie jeweils annehmen, dass er es hören möchte oder mindestens ertragen kann. Darüber muss der Diktator misstrauisch und letztlich paranoid werden, denn er kann nicht wissen, was die da unten wirklich tun. Also muss er verlängerte Sinnesorgane seiner inneren Öffentlichkeit installieren, die es ihm erlauben, bis tief in die privaten Räume, die sich riesenhaft vor ihm auftürmen, hineinzublicken und hineinzuhorchen. Dies sind die Geheimdienste. Ihre Tätigkeit hat, je besser sie sie tun, zur Folge, dass letztlich alle privaten Räume des Systems auch korrumpiert und kontaminiert werden. Niemand kann jemals wirklich sicher sein, nicht ausgespäht, ausgelauscht oder ausgeliefert zu werden - Kollegen verraten Kollegen, Kinder ihre Eltern, man kann niemandem mehr trauen. Und sich selbst auch nicht. Damit hat sich die Spaltung bis tief in jedes Mitglied dieses Systems fortgepflanzt.“

Dies ist die Hybris. Welche Verdammnis sie nach sich zieht, und wie wir transformativ antworten können, dazu nächstes Mal mehr. Und unterdessen nicht vergessen, Cha, Cha, Cha:

Es gibt Hoffnung!

Dies alles und noch viel mehr steht natürlich in 'die heiligen Kühe...'.

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