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Diesmal möchte ich der Beziehung zwischen Virtualität und Realität (Eigentlichkeit und Wirklichkeit) im Prozess der Entwicklung von Kultur weiter nachgehen. Tut mir leid, wenn das eventuell ‚abgehoben‘ daherkommt. Zu unserer Beruhigung und Beunruhigung: das ist es nicht. Die sehr konkrete Welt, wie wir alle sie kennen, ist das vorläufige Ergebnis dieses Prozesses der kreativen Spaltung …

Kultur und der Tanz mit dem Spalter (2)

‚Tun wir doch mal so, als ob’ – das ist der wunderlichste und der wunderbarste Aspekt daran, was es heißt, ein Mensch und ein kulturelles Wesen zu sein. Wunderlich, weil die Evolution vier Milliarden Jahre gut ohne ihn ausgekommen ist. Wunderbar ist er in dreierlei Hinsicht:

Aus Eigentlichkeit wird Wirklichkeit, aus Virtualität wird Realität, aus Als-Ob wird Etwas. Erst stellt man sich vor, dass man fliegen kann, dann guckt man bei den Vögeln ab, wie die das machen, dann baut man einen mechanischen Vogel, dann fliegt man tatsächlich, dann entsteht eine Luftfahrtindustrie, von der die Weltwirtschaft abhängig ist – mit Folgen, die wir gerade in der aktuellen Pandemie unter die Nasen gerieben bekommen. Die kulturelle Welt ist nichts anderes als Wirklichkeit gewordene Eigentlichkeit.

Das menschliche Gehirn macht, soweit wir wissen, keinen Unterschied zwischen Virtualität und Realität. Ob wir uns visuell an etwas erinnern, es uns in der Zukunft vorstellen oder gerade Gesehenes verarbeiten – dieselben Areale und Verknüpfungen werden aktiv. Andersherum lassen wir uns durch Virtuelles genauso beeindrucken wie durch Reales: Wir werden traurig, wenn wir eine melancholische Filmszene sehen, ein Theaterstück erregt unseren Protest, ein alter Song erfüllt uns mit Wehmut. Der Spalter ist noch kein gehirnphysiologischer Befund, und unsere Gehirnspezialisten sind noch weit davon entfernt, ihn überhaupt zu suchen. Sie kartographieren erst mal das Terrain, und zwar mit virtuellen Versuchsarrangements.

Dennoch sind wir uns, außer, wenn der Spalter schläft und wir träumen, des Unterschiedes zwischen Vorstellung und unmittelbarer Realität bewusst. Wir wissen, dass wir nur eine Rolle spielen, dass wir eine höfliche Lüge erzählen, dass wir phantasieren und nachahmen – dass wir so tun, als ob, und damit unsere Welt erst erschaffen, denn wir können uns dabei beobachten; und wir können uns sogar dabei beobachten, wie wir uns beobachten. Allerdings neigen wir dazu zu vergessen, dass unsere reale kulturelle Welt aus Virtualität geboren ist, weil das Faktische Macht über uns gewinnt und wir unserer Schöpfung folgen müssen.

All das wird dadurch möglich, dass wir uns spalten. Und weil wir gespaltene Wesen sind, und während wir mit einer Mischung aus Neid und Herablassung auf den Rest der Schöpfung blicken, der nicht gespalten ist, lebt in uns allen eine tiefe Sehnsucht nach Verschmelzung, nach Einssein und Kommunion, danach, aus der Spaltung erlöst zu werden. Schon unser Als-Ob ist Ausdruck dieser Sehnsucht und der Versuch, die Getrenntheit zu überwinden – sich und die Welt, wenn man so will, wieder ganz zu machen. Allerdings geht das wieder nicht anders als über Symbole (etwa der religiösen Kommunion) und Als-Ob (wie etwa in schamanischen Tänzen).

Viele von uns kennen die Aufhebung der Abgetrenntheit aus der sexuellen Ekstase, aus der Selbstvergessenheit des kreativen ‚Flow’, aus den stillen Momenten des Friedens mit sich und der Welt, und wir erwarten sie im Tode. Viele von uns suchen sie in den Ritualen der Religion, oder auf dem Abkürzungswege oral in Drogen, Alkohol und anderen Süchten, oder genital verzerrt in der Macht oder der Hingabe.

Paradoxerweise bedingen sich also Spaltung und Verschmelzung gegenseitig.

Diese Geschichte erzählt uns der Mythos von der Gottheit, dem Selbst, das sprach: „Ich bin.“ Sobald es „Ich bin“ gesagt hatte, fürchtete es sich. Dann dachte es: „Wovor soll ich mich fürchten, ich bin das Einzige, was ist.“ Und kaum hatte es das gesagt, fühlte es sich einsam und wünschte, es wäre ein anderes da, und schon fühlte es Begehren. Es schwoll an, spaltete sich in zwei, wurde Mann und Frau und zeugte die Welt.

Während sich also das Ganze durch die Spaltung bewusst wird, stellt sich aus der Spaltung auch die Einheit des Ganzen wieder her. Das ist die mephistophelische Paradoxie unseres Daseins, aus der es für uns keinen prinzipiellen Ausweg gibt:

„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“

Entscheidend ist letztlich, wie wir das wahrnehmen und bewerten, was auf uns einwirkt, und wie wir dann mit dem umgehen. Und das ist eine Frage unserer grundlegenden Vorannahmen. Uns scheint, dass das uns beherrschende Ursache-Wirkungs-Paradigma in seiner Linearität und seiner Unfähigkeit, Zirkularität zu verstehen, gemäß seinem eigenen Muster ursächlich dafür sorgt, dass uns unsere kulturell spezifische Spaltung mit so viel Ironie konfrontiert. Und jetzt wirken seine Folgen auf das Paradigma zurück, was wiederum von dem gar nicht verstanden wird...

Die Weisen der Welt belehren uns, dass der Spalter eine Fiktion ist. Ist er auch. Eigentlich.

 

All das und noch viel mehr steht natürlich auch in 'Die heiligen Kühe...'

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